Nadia wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren, doch sie schätzte ungefähr eine Woche. Zweimal am Tag brachte man ihr einen Becher Wasser und eine Schüssel Reis und man ließ sie auf Toilette – wahrscheinlich nur zum Eigenwohl.
Sie hatte einige Wunden, die sie nicht versorgen konnte und gelegentlich dachte sie bitter, dass wenn sie sich eine Infektion holen würde, das Ganze wenigstens ein Ende fand. EXO kam nicht um sie zu retten, nicht um sie rauszubeamen und ihre Entführer machten auch gar nicht die Anstalt sie gegen irgendetwas eintauschen zu wollen. Sie war realistisch, wenn sie Nadia gegen einen von EXO tauschen wollen würden, würde EXO es ohnehin ablehnen und das war okay. Sie mussten zusammenhalten und Nadia würde mit Sicherheit nicht anders reagieren. Sie wollte nicht auf sie sauer sein, doch enttäuscht war sie schon. Sie würde hier enden, in diesem Keller. Ob Barış sich Sorgen machte? Oder hatten EXO ihm vielleicht etwas erzählt, damit ihr Verschwinden gecovert war?
Sie fühlte sich schwach und müde, doch ihre scharfe Zunge hatte sie noch nicht verloren. Wahrscheinlich hätte Nadia die ein oder andere Wunde weniger, wenn sie nicht so frech wäre.
Die Nacht war wieder hereingebrochen, als einer der Männer kam. Sie sprachen untereinander nicht vor ihr und sie kannte keinen Namen, sie wusste nur, dass es acht waren. Es war eine Routine, an die sie sich orientieren konnte.
Er löste ihre Handschellen, die inzwischen fast unnötig waren und zerrte sie auf die unsicheren Beine.
„Komm Schätzchen, letzte Toilettenpause.“
Sie schlurfte in das Badezimmer. Mit Wasser hatte sie ihre Wunden halbwegs gereinigt und das getrocknete Blut weggewaschen, doch sie sah trotzdem schlimm aus und sie konnte sich selbst nicht mehr riechen.
Als der Mann sie wieder an den Stuhl gefesselt hatte, machte er das Licht aus. Nicht, dass es für sie einen Unterschied machte, denn in dem Kellerraum gab es nichts zu sehen, was ihre Gedanken ablenken könnte. Sie schlief wieder ein und als sie aus einem Traum, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, aufschreckte, merkte sie, dass die eine Handfessel nicht wirklich festgezogen war. Die Handschelle war immer noch eng, aber nicht zu eng.
Eine halbe Ewigkeit versuchte sie ihre Hand zu befreien. Das Metall schnitt ihr in die Haut, doch Nadia gab nicht auf, bis sie frei war. Ihre Beine waren mit Seilen gefesselt und mit freien Händen, stellten die Fesseln kein Problem mehr da. Nun stand sie da und schaute die Treppe nach oben. Sie hatte keine Ahnung, ob die Tür abgeschlossen war oder ob jemand oben Wache stand. Was würden sie mit ihr machen, wenn sie sie dabei erwischten, wie sie versuchte abzuhauen? Doch was hatte sie an diesem Punkt noch zu verlieren?
Nadia schlich sich die Treppe hoch, doch fand sie die Tür verschlossen. Sie wollte auch nicht zu sehr an der Tür rumrütteln, für den Fall, dass jemand davor wartet.
Sie ging wieder runter und schaute sich um. Es gab schmale Fenster, wie es sich für einen Keller gehörte, doch dann entdeckte sie eine Treppe in der hinteren Ecke. Es war eine dieser Ladeluken und das Tor bestand aus Holz und machte keinen besonders robusten Eindruck mehr. Nun überlegte sie, ob sie das morsche Holz mit dem Stuhl einschlagen könnte. Sicher, es wäre laut, aber wohl nicht so laut, wie als wenn sie die Fensterscheiben einschlagen würden, denn die Fenster ließen sich nur einen Spalt kippen. Nach dem Motto ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‘, schnappte sie sich den Stuhl und sammelte ihre letzten Kräfte. Positionstechnisch war sie in der schlechteren Position, denn sie musste nach oben schlagen und versuchen keine Holzsplitter abzubekommen. Der Stuhl blieb in dem alten Holz stecken und als Nadia kräftig daran zog, brach ein großes Stück Holz heraus. Nicht genug, um das sie durchpassen könnte, doch genug um neue Hoffnung zu bekommen. Mit den Händen brach sie noch ein paar Stücke Holz heraus und stolperte dann unbeholfen die Treppen hoch.
Nadia hatte keine Ahnung wo sie war. Sie war im Hinterhof der Halle gelandet, doch vor ihr lagen mehrere kleine Wege. Sie war zu schwach um zu rennen, doch ging sie so schnell sie konnte. Schließlich erreichte sie eine Straße. Es war mitten in der Nacht und sie sah keinen Menschen. Eilig lief sie weiter, sie wollte so viel Distanz zwischen sich und ihren Entführern bringen.
Sie verlor den Überblick wie lange sie schon unterwegs war und sie gönnte sich nur ab und zu eine Pause, wo sie sich doch am liebsten irgendwo hingelegt hätte. Immer wenn sie ein Geräusch hörte, schreckte sie auf und ging eilig weiter. Inzwischen hatte sie geografisch halbwegs eine Idee wo sie war, doch sie war weit ab von den U Bahnstationen. Sie hatte kein Handy. Nichts. Sie hörte Hunde bellen und rannte los – direkt vor ein Auto.
Die Reifen kamen quietschend zum Stehen. Nadia rechnete damit, dass man sie wiedergefunden hatte. Weglaufen machte jetzt auch keinen Sinn.
„Nadia?!“
„Taehyung oppa?“, sagte sie und ihre Beine gaben nach. Der Sänger sprang aus den Van und fing sie auf. Entsetzt schaute er sie an.
„Was ist passiert?“
„Keine Polizei, kein Krankenhaus, kein EXO“, war alles, was Nadia noch sagte und dann wurde sie bewusstlos.
Tatsächlich hatte Jongin die ersten fünf Tage praktisch nichts anderes gemacht, außer versucht Nadia zu sich zu holen, ohne Erfolg.
Er war im Cardclub gewesen, um Barış zu erklären, dass sie eine Weile in Japan bleiben würden und Nadia mit ihnen kommen würde. Er sah nicht wirklich aus, als würde er Jongin glauben, doch er hatte keine andere Wahl. Sie konnten nicht riskieren, dass die Polizei hier anfing zu ermitteln und auch wenn es ihn schmerzte, so befasste er sich langsam mit dem Gedanken, dass sie tot war.