Seit Tagen konnte Nadia nicht wirklich schlafen. Eigentlich war sie die ganze Nacht wach und schlief dann höchsten vor Erschöpfung ein. Manchmal schlief sie tagsüber ein, wachte aber nach kurzer Zeit wieder auf, geplagt von Alpträumen. Mal wieder war es 4 Uhr morgens und die Frau hatte den Kampf aufgegeben. Sie saß im Wohnzimmer und schaute eine Reportage über Bhutan. Das Land, in dem Glück messbar war. Vielleicht sollte sie nach Bhutan.
„Wenn du magst, kann ich dir etwas geben, was dir beim Schlafen hilft. Wir haben manchmal auch Probleme.“
Es war Jungkook, der sich neben sie setzt.
„Schon gut. Ich glaube daran, dass wenn ich innerlich wieder zur Ruhe komme, ich auch wieder schlafen kann“, erwiderte sie. Sie war noch nie gut mit Tabletten gewesen. Tatsächlich machte es ihr Angst, wie sehr Tabletten das Wesen eines Menschen verändern konnten.
„Vielleicht würde es dir helfen darüber zu reden?“, schlug er vor.
„Ich wünschte ich könnte.“
„Du weißt das wir mit ihnen befreundet sind. Sie werden irgendwann herausfinden, dass du hier wohnst.“
„Damit werde ich mich auseinandersetzen, wenn es soweit ist“, meinte Nadia und gähnte.
„Na komm her.“ Jungkook öffnete sie Arme und Nadia versank darin.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich besser. Und wütender. Wie hatte EXO sie aufgeben können? Wieso hatten sie vorher so ein Theater darum gemacht, sie zu beschützen, wenn sie sie dann einfach aufgaben, wenn es ernst wurde?
BTS verabschiedeten sich und versprachen heute Abend Essen mitzubringen. Nadia hingegen zog sich an und fuhr mit der U-Bahn zu Jongin Wohnung. Sie musste ihn zur Rede stellen. In ihrem Kopf leget sie ich zurecht, was sie ihm alles an den Kopf schmeißen würde. Das er ein Feigling war und ein Blender und dass sie den Tag verfluchte, an dem sie sich begegnet waren. Der würde sein blaues Wunder erleben!
Sie kannte zwar den Code für seine Wohnungstür, doch empfand sie es als falsch, einfach hinein zu gehen. Also klingelte sie. Und wartete. Und wartete. Sie klingelte noch einmal, dann hörte sie das Schloss klicken. Als die Tür sich öffnete, wurde Nadia mit einmal der Wind aus den Segeln genommen. Eine Frau stand vor ihr, im Bademantel. Sie schielte auf die Apartmentnummer.
„Ja?“
„Ehm … ich wollte zu Jongin“, sagte Nadia und kam sich mit einem Mal so dämlich vor. Vielleicht war er umgezogen? Innerhalb von zwei Wochen wäre das möglich. So was passierte.
„Oh, er ist schon weg, Studio oder so. Soll ich ihm etwas ausrichten?“
„Ich bin eine Nachbarin, er lässt seinen Wäschekorb immer vor meiner Waschmaschine stehen, das nervt. Nur weil er ein Superstar ist, heißt das nicht, dass er tun und lassen kann, was er will.“
Die Frau schaute Nadia verwundert an.
„Tut mir leid. Ich sage es ihm.“
Dann schloss sich die Tür.
„Stupid, stupid, stupid, stupid…“, murmelte Nadia auf dem Weg zum Fahrstuhl.
Sie fühlte sich schrecklich – verraten und betrogen. Sie hatte wirklich begonnen diese Kerle gern zu haben. Jongin sogar mehr als das. Wenn sie miteinander gesprochen hatten, war es, als wüssten sie, was der andere dachte. Und plötzlich war alles anders gewesen. Wieso war er so sauer auf sie gewesen? Drei Tage lag sie praktisch im Koma und als sie aufwachte, war er komisch gewesen. Sie überlegte zum EXO Dorm zu fahren, aber sie fühlte sich wie ein angefahrener Hund und auf Chens Theorie hatte sie jetzt auch keine Lust mehr. Wahrscheinlich nahmen sie an, dass Nadia tot war. Da konnte man dann ja auch mit seinem Leben weitermachen und sich einfach eine neue Freundin anlachen.
All das änderte nichts an der Tatsache, dass sie nicht außer Gefahr war. Diese Leute, die sie entführt hatten würden bestimmt nicht aufgeben und zu allem Übel zog sie BTS jetzt noch mit rein. Konnte sie zulassen, dass ihnen etwas passierte?
Als Taehyung nach Hause kam fand er Nadia im Flur auf den Boden liegen. Sie starrte die Decke an und reagierte auch nicht, als er reinkam. Er legte sich wortlos zu ihr. Nadia hatte recht schnell begriffen, dass die BTS Mitglieder alle sehr unterschiedlich waren, aber vor allem, dass Taehyung ein ganz besonderer Mensch war. Er wirkte so unschuldig. Wie ein Kind, dem noch nie etwas Böses passiert war. In den Tagen, in denen sie jetzt bei BTS wohnte, hatte sie ihn noch nie sauer gesehen, wenn stritten sie sich über so banale Dinge das grüne Bananen noch nicht reif waren, aber Taehyung sie eben genau so wollte oder dass er immer das Magnum mit Mandeln aß, beziehungsweise dazu tendierte immer das letzte zu essen, obwohl es Yoongis Lieblingssorte war. Yoongi, der eigentlich kein Mann der vielen Worte war, fuchste so etwas, doch Tae sagte dann nur ‚Hyung, ich hole dir neues Eis‘ und alles war vergessen – bis er dann wieder das letzte Mandeleis nahm.
Er schien aber auch genau zu wissen, was man brauchte. Wenn man alleine sein wollte, kam er einem nicht in die Quere, aber zum Aufmuntern war er auch immer da. Im Moment war sie nur froh, dass er da war und nichts sagte.
Das änderte sich nach ungefähr 10 Minuten.
„Wie lange liegst du hier schon?“, fragte er aus dem Nichts.
„Keine Ahnung“, erwiderte sie. Sie kam nach Hause und irgendwie hatte die Nähe des Bodens ihr gutgetan.
„Weil … der Boden ist schon ziemlich hart … können wir uns nicht auf einen Teppich legen … oder auf die Couch … oder in ein Bett?“, schlug er vor und rutschte schon nervös hin und her.
An diesem Abend, kurz vor Sonnenuntergang, kam Taehyung zu ihr. Nadia saß auf den Balkon und schaute über die Stadt.
„Okay, komm mit“, sagte er. Er hatte bestimmt versucht bestimmend zu wirken, aber irgendwie tat er das nicht.
„Wohin?“
„Ist eine Überraschung“, erwiderte er und grinste stolz.
Die Tage wurden kürzer und Nadia zog sich einen Kapuzenpulli an und einen großen Schal, weil sie keinen Anhaltspunkt hatte, was er vorhatte. Er sagte nur sie gingen spazieren. Tatsächlich fuhren sie quer durch die Stadt und nach einer halben Ewigkeit bog er auf einen Parkplatz schräg gegenüber vom World Cup Stadion.
„Wo sind wir?“, fragte sie verwundert und schaute auf Treppen die nach oben führten – weit nach oben.
„Das ist der Haneul Park, warst du hier schon mal?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na dann wird es Zeit.“
Es stellte sich heraus, dass der Haneul Park auf einem Hügel lag. Tatsächlich waren es zwei Parks, der Noeul Park und der Haneul Park, die auf nebeneinanderliegenden, riesigen Hügeln angelegt worden waren. Die Stufen hatten sogar Nummern, damit man wusste, wie hoch man schon gelaufen war. Ziemlich fertig kamen sie oben an und stützten sich am Geländer ab. Dafür war die Aussicht total schön. Man überblickte das Stadion und den Hangang. Allerdings war die Beleuchtung recht mau und in Nadia stieg ein ungutes Gefühl auf. Sie war kein Angsthase, doch die Entführung hatte ihr mehr zugesetzt, als es äußerlich sichtbar gewesen wäre. Nachdem man die Treppen überwunden hatte, waren sie noch nicht im eigentlich Park und mussten den Weg weiter nach oben gehen. Es waren um diese Uhrzeit nicht mehr viele Leute hier unterwegs und die Leute, die an ihnen vorbeikamen, schenkten ihnen keine Beachtung. Taehyung hatte zwar die Kapuze auf, hatte sich aber noch nicht mal die Mühe gemacht sich einen Mundschutz anzuziehen.
Schließlich erreichten sie den Eingang. Der Park war riesig, zumindest von Nadias Ausblick im Moment und man konnte fast das Gefühl bekommen, dass man nicht mehr in Seoul war. Gut, nun strahlte die Stadt, aber tagsüber konnte man bestimmt denken, dass man die Megacity verlassen hatte. Der Haneul Park hatte weitläufige Grasfelder, die mannshoch waren und sich sanft im Wind wiegten.
„Das ist wirklich schön hier“, sagte sie und war froh, dass er sie hergebracht hatte. Andererseits wäre es auch ein toller Landeplatz für ein Ufo.
„Ich komme gerne hier her, wenn ich mal allein sein will, wenn ich das Gefühl habe, mir fällt die Decke auf den Kopf“, erzählte er und wirkte, als würde er in Gedanken versinken.
Sie schienen eine halbe Ewigkeit zu laufen und niemand begegnete ihnen. Doch dann hörte Nadia ein Geräusch im Gras und erschreckte sich. Aus Schreck sprang sie praktisch in Taehyungs Arme, die sie festhielten.
„Schon gut, wird nur ein Hase gewesen sein“, sagte er ohne sie los zu lassen. Ihr Herz raste und Nadia verfluchte sich selbst so schreckhaft zu sein. Noch immer ließ er sie nicht los und sie blickten einander an. Nadia überwand die letzte Distanz zwischen ihren Lippen und küsste ihn. Sie wusste nicht, ob es Rache an Jongin war oder ob sie wirklich Gefühle für ihn hatte, doch im Moment fühlte es sich richtig an. Seine Arme umschlossen sie und er erwiderte den Kuss innig.
Sie wusste nicht wie lang sie da standen und sich küssten, doch als sie voneinander abließen, waren beide schwer am Atmen.
„Ich kaufe dir einen Hasen“, war das erste was er sagte.
„Was?!“, fragte sie lachend.
„Wenn das jedes Mal passiert, wenn du dich über einen Hasen erschreckst, dann hole ich Hundert Hasen und setzte sie überall im Dorm aus.“
Nadia lachte fröhlich und schupste ihn leicht. Als sie weitergingen vergruben sich ihre Finger ineinander.