Nadia wohnte nun schon seit 10 Tagen im EXO Dorm. Seit der Begegnung mit Jongin vor fast einer Woche, war sie ihm nicht mehr alleine begegnet. Es war einer dieser Tage, da knallte ihr die Decke auf den Kopf. Den ganzen Tag schon war es unheimlich hektisch gewesen. Ständig kam jemand, ging jemand, sang jemand, schrie jemand. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ihr einziger Lichtblick war, dass EXO heute Abend irgendeinen Live-Auftritt hatten, dann hätte sie ihre Ruhe.
„Du siehst gestresst aus“, stellte Chen fest und stellte sich vor ihren Spiegel, um seine Krawatte zu binden. Als sie sah, dass er scheiterte, ging sie zu ihm und band ihm die Krawatte.
„Manchmal seid ihr etwas anstrengend.“
„Wir sind Männer.“
„Good point“, stellte sie fest und zog die Krawatte fest.
„Danke“, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie mochte Chen, nicht wie sie Jongin mochte, aber sie hatte ihn unheimlich gerne um sich und nicht nur weil er sie meisten gegenüber Baekhyun verteidigte, mit dem sie regelmäßig aneinanderstieß. Gut, vielleicht war sie etwas Mitschuld, aber es machte auch so einen Spaß ihn zu necken. Wenn er anfing ihr zu drohen und sie dann sagte ‚Was willst du machen? Huh? Das Licht aus?‘. Das waren so Momente, in denen sich Chanyeol und Sehun wegdrehen mussten, damit Bae ihr Grinsen nicht sah, während die anderen sich sehr konzentrieren musste, um nicht zu lachen.
Ihr Manager holte sie ab. Nadia hatte ihn noch nicht kennengelernt. Immer wenn er kam sollte sie sich im Zimmer verstecken – wie sollten sie das auch erklären?! Es klingelte an der Tür und Nadia schloss die Tür zu ihrem Zimmer. Chen streckte noch mal den Kopf rein.
„Sei brav, wir bringen die später was zu essen mit.“
Ihre Antwort darauf war ein leises Bellen.
Es passierte, dass sie Nadia alleine ließen, aber da EXO zurzeit keine aktive Promotion hatte, hatten sie selten alle zusammen Termine. Irgendeiner war sonst immer zu Hause oder sie überschnitten sich. Sie lehnte sich an die Tür, um zu hören, wann die anderen weg waren und ging dann ins Wohnzimmer. Super. Sie konnte sich noch nicht mal eine Pizza bestellen, weil sie die Tür ja gar nicht auf bekam. Auf ihre berechtigte Frage, was sie denn machen sollte, wenn es brannte, bekam sie nur zu hören, dass sie Jongin anrufen sollte, damit er sie rausbeamen konnte. Na immerhin. Sie machte den Fernseher an, als sie die Tür wieder hörte. Sehun kam rein gerannt, rannte in sein Zimmer und wieder raus.
„Bye …“, murmelte sie, als die Tür schon wieder zugefallen war. Dann fiel ihr etwas auf. Sie schaltete den Fernseher auf lautlos und dachte nach. Etwas fehlte. Es lag ihr auf der Zunge, konnte es aber nicht greifen. Was war anders? Und dann wusste sie es! Sehun hatte nicht zugeschlossen!
Nadia sprang auf, rannte zur Tür und drückte die Türklinke runter. Offen. Vielleicht war es nur ein Trick und die anderen warteten im Fahrstuhl auf sie. Sie wollte ja gar nicht für immer weg. Sie verstand diese WG, oder zumindest glaubte sie das, doch EXO würden nicht vor Mitternacht nach Hause kommen. Es war gerade 19 Uhr. Sie könnte raus, etwas essen und einkaufen und einfach frei sein und wieder Zuhause sein, bevor auch nur irgendwer bemerkte, dass sie weg war. Es würde niemand schaden.
Die Frau eilte in ihr Zimmer, zog sich um, schnappte sich ihre Handtasche und stockte, als sie die Haustür öffnete. Wieso spielte in ihrem Kopf der Soundtrack von Rapunzel, als sie den Turm verlassen will? Blödsinn. Sie war eine Gefangene! Wie Rapunzel … Entschlossen verließ sie die Wohnung. Sie hatte den Code für die Wohnung und die Tür war ja nicht abgeschlossen. Sie würden es niemals erfahren.
Zielstrebig lief sie zur U-Bahn und fuhr nach Myeongdong. Allein schon der Geruch, als sie die Station verließ! Sie hatte Streetfood vermisst. Riesengarnelen, scharfe Schweinespieße, gebackenes Toppoki mit Grillkäse. Nadia aß sich einmal quer die Hauptstraße entlang und ging dann shoppen. Einfach mal alleine sein. Sie war gut darin allein zu sein, schließlich stand sie seit sie 16 Jahre war auf eigenen Beinen. Sie kaufte hier und dort ein paar Kleinigkeiten und Klamotten. Sie hatte jetzt Mitbewohner und ihre Pyjamaauswahl war mehr als gering.
Es war gerade mal 22 Uhr, als sie wieder bei der U-Bahn am Dorm ausstieg. Es war ihr schlechtes Gewissen, was sie zurück ins Dorm getrieben hatte. Sie schaute auf die Uhr. Noch war genug Zeit und der Hangang war nicht weit. Sie hatte sich einen Rucksack geholt und die Einkäufe darin verstaut. Sie hatte sogar Erdbeeren geholt, diese sündhaft teuren, die mit Schokolade und Ricecake ummantelt waren. Nicht etwa unbedingt, weil sie EXO so mochte, sondern eher als Bestechung, wenn man ihr doch auf die Schliche kommen würde.
Bei dem Supermarkt auf dem Restaurantschiff am Hangang holte sie sich etwas zu trinken und ging dann unten am Fluss entlang, um sich dort irgendwo in der Dunkelheit auf die Steine zu setzen. Vor ihr, auf der anderen Seite des Hangang, lag das Olympiastadion und weiter links konnte man den Lotte World Tower sehen, der wie ein Mahnmal in den Himmel ragte. Bald würde sie zurück gehen, doch jetzt wollte sie einfach die Ruhe genießen. Fast schon konnte sie EXO vergessen. Fast schon fühlte es sich normal an.
Dann aber zog sie etwas davon, Nadia löste sich in Luft auf und landete schmerzhaft auf den Boden des Dorm. Sie blickte in Jongins wütendes Gesicht und auch die anderen standen drum herum.
„Bist du wahnsinnig?!“ Es war nicht er, der sie anfuhr, sondern umgekehrt. Damit hatte Jongin nicht gerechnet und der böse Blick wandelte sich in einen verwirrten Blick.
„Bin ICH wahnsinnig? Bist DU wahnsinnig?!“
„Also entschuldige mal bitte! Ich hätte im Kino sitzen können, in einem Restaurant, ich hätte mich mit jemand unterhalten können und du beamst mich einfach weg! Also Low Profile sieht etwas anders aus“, blaffte sie ihn an und in den Gesichtern seiner Bandkollegen, sah sie, dass sie wohl gar nicht so unrecht hatte.
„Wie hast du mich eigentlich her gebeamt?“
„Also ich … ehm … ich habe … ein Teil mit meiner Energie … in dich … gebeamt.“
„Du hast was?!“ Sie schupste ihn und er fiel nach hinten um – er fiel nicht weit, denn er war schon in der Hocke.
„Aus Sicherheitsmaßnahmen! Die ja anscheinend auch nötig sind!“, meckerte er zurück.
„Ich habe am Hangang gesessen! Ich wollte zurückkommen! Ich habe euch sogar Erdbeeren geholt!“
Ha, Nadia hatte gewusst, dass sie die Erdbeeren brauchen würde.
„Du hast Erdbeeren geholt?“, fragte Xiumin kleinlaut.
Sie zog ihren Rucksack aus und holte den Karton heraus, indem die Erdbeeren waren. Jongin schaute sie verständnislos an, er hatte sie voll durchschaut.
„Und wo hast du die Erdbeeren her?“
„Aus Myeongdong“, erwiderte sie trotzig und äffte seinen Ton nach.
„Du warst in Myeongdong?“
„Ja.“
„Ich fasse es nicht! Ich finde gar nicht die Worte, um auszudrücken, wie enttäuscht ich bin.“
Ungläubig starrte sie ihn an.
„Es geht nicht um dich. Es geht um mich! Ihr haltet mich gefangen! Ich bin nie alleine! Ich sehe meine Freunde nicht, ich schlafe nicht in meinem eigenen Bett und jetzt habe ich auch noch einen Beam-Anator in mir – wie ist der da eigentlich reingekommen? Jedenfalls wollte ich nur ein paar Stunden für mich haben! Ist das so schwer zu begreifen?“
Die anderen hielten sich da schön raus und ließen die beiden Hitzköpfe das austragen.
„Ich verstehe es“, sagte er und griff nach ihrer Hand. „Doch es geht nicht darum, dass ich dir keinen freien Abend gönnen, sondern darum, dass was dir passieren könnte! Wir haben überall Feinde! Sie könnten dich entführen und foltern und verhören …“
Nadia ersparte sich zu sagen, dass EXO all das mit ihr gemacht hatte, da er wirklich besorgt aussah.
„Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen“, meinte Nadia, weil ihr nichts Besseres einfiel.
„Okay, können wir jetzt Erdbeeren essen?“, wollte Chanyeol wissen.
Etwas später wurde Nadia ins Wohnzimmer gerufen. Es überraschte sie, dass alle noch da waren. Noch eine Standpauke würde sie heute nicht überstehen.
„Wir haben uns gedacht, jetzt … wo du irgendwie … zu uns gehörst, das wir lernen müssen einander zu vertrauen. Deswegen würden wir uns gerne unterhalten“, erklärte Suho.
„Ihr wollt mich ausquetschen“, fasste Nadia zusammen.
„Wir wollen dich ausquetschen“, bestätigte Baekhyun und erntete entsetzte Blicke von den andern.
„Was? Sie ist zu schlau, um auf dein Gesäusel reinzufallen“, bemerkte Baekhyun. Eigentlich war das ein Kompliment.
„Okay, aber für jede Frage, darf ich auch eine stellen“, verhandelte nun Nadia. Die Männer fühlten sich damit nicht so wirklich wohl, mussten aber zugeben, dass es fair war. Schließlich sollten sie ja nicht nur ihr vertrauen, sondern auch umgekehrt.
Und so begann es.
„Woher kommst du? Ich meine, du bist keine Koreanerin“, fragte Chanyeol als Erster.
„Meine Mutter kam von den Philippinen, mein Vater ist Kanadier mit irischen Wurzeln.“
Sie alle bemerkten, dass sie von ihrer Mutter in der Vergangenheit sprach.
„Wie bist du nach Korea gekommen?“, fragte Chen weiter, doch Nadia hob den Finger.
„Woher wusstet ihr, wer ist seid?“ Eine Antwort für eine Frage.
„Wir wussten es einfach, so wie wir wussten wie man atmet. Wir wussten es schon von Anfang an und wir wussten auch, dass wir darüber nicht sprechen durften. Es waren Träume, Fetzen von Erinnerungen“, erklärte Kyungsoo.
„Ich bin in Kanada aufgewachsen. Als ich 8 Jahre alt war starb meine Mutter bei einem Verkehrsunfall. Mein Vater ist ein Säufer und ein Schläger und als meine Mutter weg war, wurde es nur schlimmer. Er nahm einen Job in Japan an und wir zogen nach Osaka. Meine beste Freundin war Koreanerin und ich verbrachte so viel Zeit wie es ging bei ihnen. So lernte ich die Sprache. Als wir 14 waren, zog sie mit ihren Eltern zurück nach Seoul. Ein Jahr später lief ich von Zuhause weg. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich sparte Geld für ein Ticket und flog nach Korea, angeblich nur für die Sommerferien. Danach mogelte ich mich durch. Mein Vater sprach kein Koreanisch und kaum Japanisch und Hanjins Eltern konnten nicht direkt mit ihm sprechen. Ich erzählte ihnen, dass er viel zu tun hatte und fragte, ob ich nicht ein Jahr hier zur Schule gehen könnte. Ich erzählte ihnen, dass er Schulgeld schicken würde, was er natürlich nicht tat, weil er nicht wusste wo ich war. Neben der Schule nahm ich dann verschiedene Jobs an.“
Ein betroffenes Schweigen legte sich über die Truppe.
„Irgendwie ist ihre Geschichte viel interessanter als unsere“, meinte Sehun.
„Wie habt ihr eure Kapseln gefunden?“, fragte Nadia.
„Es war ein immer wiederkehrender Traum von den Orten, an denen sie versteckt waren, aber sie waren alle nicht weit weg von unserem Zuhause“, erzählte Suho.
„Was für Jobs waren das?“, wollte Baekhyun von ihr wissen.
„Hmmm … ganz unterschiedlich. Ihr führte Hunde von reichen Leuten aus – ihr wisst gar nicht wie viel die dafür springen lassen. Dann habe ich gestohlen – was ja auch kein Geheimnis mehr ist. Bis ich den Falschen bestohlen habe. Meinen Chef vom Club. Bariş. Er ist Türke und lebt in zweiter Generation hier in Korea. Er hat mich erwischt und ich dachte schon mein letztes Stündchen hätte geschlagen. Er fragte mich wieso ich es getan habe und ich erzählte ihm meine Geschichte. Ich weiß nicht was ihn dazu bewegt hat, doch er nahm mich auf. Hanjins Eltern wurden immer misstrauischer und es hätte nicht lange gedauert, da wäre es aufgeflogen. Ich zog bei ihm ein, er bezahlte mein Schulgeld und er ließ mich im Pokerclub arbeiten. Anfangs an der Bar, dann brachte er mir das Dealen bei. Das Geld was ich dort verdient habe, durfte ich behalten.“
Jeder, der Nadia schon auf die Arbeit begleitet hatte, hatten Bariş bereits kennengelernt. Er war jung, unter 30, wirkte aber sehr autoritär. Er war groß und breit gebaut, er hatte eine polternde Stimme, lachte aber auch gerne und oft. Für die Koreaner war es schwer einzuschätzen, aber sie waren der Meinung, dass er gut aussah, wie ein … Calvin Klein Model.
„Ich sage doch ihre Geschichte ist viel besser“, erwähnte Sehun noch einmal und hing an ihren Lippen.
„Was ist alles auf den Ringen?“, kam nun Nadias nächste Frage.
„Nun, zum einen eine Datenbank mit umfangreichem Wissen über die Allianz der zwölf Planeten, Karten, Bilder, Videos, Informationen zur Kultur, zur Bevölkerung, Städte, politische Strukturen. Auch über unser Sonnensystem, Freunde und Feinde im Weltall, Informationen zu Technologien, zu den Kräften der Königsfamilie – kurzgesagt: Wikipedia. Doch darüber hinaus haben wir auch Tagebücher geführt, oder besser die, die wir mal waren. Auch Freunde und Verwandte konnten uns Nachrichten hinterlassen“, erzählte Chen und spielte dabei abwesend mit seinem Ring.
„Aber wie hast du es geschafft hier zu bleiben?“, fragte Suho.
„Ach, Barış hat einen Kumpel bei der Einwanderungsbehörde. Als ich 18 war bekam ich die koreanische Staatsbürgerschaft.“ Vitamin B. Natürlich.
„Ist es nicht … komisch für euch all diese Dinge zu sehen und zu lesen? Ich meine es sind zwar eure Erinnerungen, aber irgendwie ja auch nicht …“
„Nun, ich denke jeder hat dazu eine eigene Einstellung. Eigentlich werden wir sehr alt. Als wir … gestorben sind, waren wir alle in den frühen 250er Jahren, wobei unser Jahr fast doppelt so lang ist, wie ein Erdenjahr. Wir haben aus unseren alten Leben sehr viel mehr Erfahrungen und Erinnerungen, als in diesem Leben. Ich persönlich stelle manchmal in Frage, welches Leben wirklicher ist. Wir hatten Familien, Geschwister und Eltern, wir haben geliebt … daran zu denken, dass keiner von ihnen mehr am Leben ist, schmerzt genauso, wie wenn wir hier einen geliebten Menschen verlieren“, kam es nach einem langen Zögern von Jongin. Nadia sah, dass ihm das Thema nahe ging und das er sich wohl sehr gut mit seinem früheren Leben identifizieren konnte.
„Hast du deinen Vater noch mal gesehen?“, fragte nun Chen Nadia.
„Einmal. Vor zwei Jahren bin ich nach Osaka geflogen, doch … es war nicht … er wird sich nicht ändern. Habt ihr vor, ich meine, wenn sich die Gelegenheit ergibt, wieder nach Hause zu gehen … also …nach …?“ Nadias Zeigefinger zeigte nach oben. Wieder Schweigen.
„Ich denke das muss jeder für sich selbst entscheiden, wenn es mal soweit sein sollte“, antwortete schließlich Chen.
„Okay, jetzt sind wir alle deprimiert – haben wir noch Erdbeeren?“, kam es von Chanyeol, der aufstand und anfing die Küche zu plündern.