Ich hatte gedacht, dass es besser werden würde, nun da er wusste, wieso ich hier war. Doch die Veränderung kam nicht. Er war ein ziemlich guter Ignorant und je länger ich bei ihm war, desto weniger verstand ich ihn.
„Willst du mir sagen, was los ist?“
Ich musste es wissen, auch wenn ich irgendwie wusste, dass mir seine Antwort nicht gefallen würde.
„Nichts, was soll los sein?“
Das waren die ersten Worte seit 2 Wochen. 2 Wochen. Kein Wort. Ich war überrascht, dass er überhaupt geantwortet hatte.
„Du ignorierst mich.“
„Ja, was soll ich sonst mit dir machen? Ich habe einen Schutzengel, weil ich mich wohl in Gefahr befinde und dieser Schutzengel kann mir dabei nicht helfen. Wow. Und meine Bandkollegen denken ich verliere langsam den Verstand, weil ich um dich herumlaufe, wenn du dich mir in den Weg stellst – nicht gerade hilfreich.“
Autsch. Immerhin war er ehrlich und ja, er machte einen Bogen um mich. Ich hatte gedacht, dass wenn ich mich ihm in den Weg stellen würde, er sich mir stellte. Das hatte zu ein paar komischen Situationen geführt. Kein Wunder, dass die anderen so dachten.
„Tut mir leid.“
„Wenn es dir leidtut, dann geh weg.“
Er drehte sich um und verließ die Wohnung, um in ein Taxi zu steigen. Es war kein Problem ihm zu folgen. Seit ein paar Tagen fühlte ich mich ziemlich kribbelig. Keine Ahnung ob es an ihm lag oder ob er sich mehr in Gefahr begab als sonst. Ich wusste es nicht, es war anders als sonst. Er war anders.
Umso verwunderter war ich, als ich sah wo das Taxi zum Stehen kam. Eine Kirche. Skeptisch ging mein Blick zu ihm und dann wieder zu dem Gotteshaus. Was wollte er hier? Ja, das würde ich noch herausfinden.
Ich folgte ihm, wie er die leeren Reihen entlang ging. Die Kirche lag etwas außerhalb des Zentrums und ich sah niemand anderes. Kyuhyun ließ sich in der 3. Reihe nieder, kniete sich hin und faltete die Hände.
Skeptisch setzte ich mich ein paar Meter neben ihn und schaute zu dem Gekreuzigten.
„Frag mich nicht, ich weiß nicht was er will“, flüsterte ich zu Jesus und spürte wie Kyuhyuns Blick mich durchbohrte. Er räusperte sich.
„Lieber Gott … ich weiß, ich war lange nicht mehr hier gewesen. Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte dich nicht vernachlässigen dürfen…“
Wenn ich noch im Stande gewesen wäre mich zu übergeben, wäre das jetzt sicher ein Moment, den ich dafür genutzt hatte. Also wenn ich Gott wäre, würde ich ihm kein Wort glauben.
„Ich weiß, Arbeit ist keine Ausrede, ich verspreche dir wieder öfters zu kommen, jeden Sonntag werde ich in die Kirche gehen und spenden … ich werde spenden und beten…“
Ich wartete auf die Pointe.
„…wenn du mir einen klitzekleinen Gefallen tust.“
Ah, da war sie. Ich rollte genervt die Augen.
Kyu schien zu warten, ob er vom Blitz getroffen werden würde, doch nichts geschah.
„Weißt du, dieser Schutzengel, den du mir geschickt hast … kann ich einen anderen haben? Jemand, der mir auch tatsächlich helfen kann? Ich will mich ja nicht beschweren, aber sie ist auch nicht besonders höflich, ich will nicht, dass sie Ärger bekommt oder gefeuert wird …“
In diesem Moment sah man Kyuhyun an, dass er darüber nachdachte, ob man Schutzengel feuern könnte und ich fing an zu kichern.
„Wie auch immer, aber kann sie bitte verschwinden?“
Er schlug die Augen auf und schaute zu mir. Da ich immer noch da war, schien er nicht zufrieden zu sein. Sein Blick wand sich zu Jesus.
„Okay, gut, ich komme zweimal die Woche…“
Wieder wartete er auf ein Zeichen. Dachte er tatsächlich, dass Gott mit sich verhandeln ließ?
„Und freiwillige Dienste, ich mache freiwillige Dienste, Kinder … Obdachlose … Tiere, ich mache es…“
Ich ploppte mit den Lippen, um ihn zu zeigen, dass ich noch immer da war. Wütend stand er auf und ging vor zu dem Gekreuzigten.
„Okay, was willst du dann? Herr Gott!“
In dem Moment kam ein Messdiener in das Kirchenschiff und schaute Kyuhyun erschrocken an. Dieser begriff wohl jetzt erst, was er gesagt hatte und wand sich ab, um die Kirche zu verlassen. Seufzend folgte ich ihm.
Er ging in einen Park, unweit der Kirche. Mit Sicherheitsabstand folgte ich ihm, bis er sich auf eine Bank setzte.
„Du weißt, dass funktioniert nicht so. Vieles liegt nicht in unserer Hand“, begann ich zu erklären.
„Wieso nicht? Natürlich liegt es in unserer Hand, Gott macht es uns nur schwer. Soll ich mich erst umbringen, bis ich dich loshabe?!“, fuhr er mich an und er sah wohl wie erschrocken ich schaute. Immerhin sprach er mit jemand, der schon einmal gestorben war.
„Dein Leben ist das Wertvollste, was du besitzt. Geld, Grundstücke … das ist alles unwichtig, wenn du nicht mehr am Leben bist, um es zu nutzen. Du berührst so viele Menschen, durch deine Stimme, wer soll für sie singen, wenn du tot wärst? Du musst verstehen wie wichtig dein Leben ist. Man kann alles verlieren und wieder gewinnen, nur das Leben nicht.“
Ich hatte meinen Blick abgewandt und den Kopf gesenkt. Wir sollten nicht darüber nachdenken, welches leben wir vorher hatten. Es tat weh. Selbstmord war für einen Schutzengel das Schlimmste, was passieren konnte.
So saßen wir da, genervt voneinander und schwiegen.
„Wie bist du gestorben?“
Eine halbe Stunde war vergangen. Zeit war mir egal, es war ja nicht so, als hätte ich nicht genug davon.
Ich lehnte mich zurück und blickte in den Himmel, versuchte mich zu erinnern.
„Ich glaube, ich bin ertrunken.“
„Du glaubst?“
„Na ja, man vergisst. So ist das. Damit man nicht die Wunden aus dem Leben mit sich trägt. Je länger man … hier … ist, desto mehr vergisst man.“
Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich mich erinnern wollte. Mich an die Gesichter meiner Eltern zu erinnern wäre zu schmerzhaft, mich an meine Geschwister zu erinnern – das wusste ich noch, dass ich Geschwister hatte – wäre zu traurig.
„Ich habe Angst vor Wasser. Nicht vor jedem Wasser. Der Ozean macht mir nichts, aber Flüsse … ich weiß, dass ich nicht noch einmal sterben kann, dennoch … ich mag sie nicht. Jedes Mal, wenn du über den Hangang fährst, habe ich das Gefühl zu ersticken.“
„Du kannst nicht ersticken.“
„Deswegen habe ich auch nur das Gefühl zu ersticken“, erwiderte ich augenrollend, lächelte dann aber.
„Wann bist du gestorben?“
„Keine Ahnung, ist wohl schon eine Zeit lang her. Ich hatte noch nicht viele Schützlinge, im Vergleich zur Unendlichkeit bin ich noch jung.“
Er war ein Stück näher gerückt.
„Aber … du musst dich doch erinnern, es ist doch alles was du hast, Erinnerungen.“
„Was bringt es mir? Meine Familie ist wohl schon längst tot, wieso sollte ich mich an ihre Gesichter erinnern, an ihre Namen?“
Es gab Zeiten, da habe ich mich nach meiner Familie gesehnt. Ich war noch nicht alt gewesen, als ich starb, vielleicht 15 oder 16 Jahre, zumindest schloss ich das, auf Grund meines Aussehens.
Und plötzlich war da etwas in seinem Gesicht, etwas Weiches, Sensibles.
„Das tut mir sehr leid, ich denke ihr habt das Recht euch zu erinnern.“
Es waren seine ersten ungehässigen Worte an mich und deshalb merkte ich sie mir gut.
„Ich will nicht, dass zu stirbst“, sagte ich leise.
„Danke. Ich wünschte ich könnte das Gleiche zu dir sagen …“
Ich fing an zu lachen.
„Ja, ja, schon gut, ich weiß ‚aber zu spät!‘“
Er lachte mit und ich musste gestehen, dass es mir Spaß machte ihn Lachen zu sehen.